Musikverein

Kunst. Leben. Philosophie

Nikolaj Znaider

Wenn Nikolaj Znaider im Dezember erstmals mit den Wiener Philharmonikern spielt, sind die Mikrophone eingeschaltet und die digitalen Aufzeichnungsgeräte laufen mit. Das Debüt wird sofort auf Platte gebannt. Am Werk selbst, dem Brahms-Violinkonzert, kann es nicht liegen. Das findet sich schon dutzendfach in den Plattenkatalogen. Aber Künstler wie Nikolaj Znaider waren und sind selten. Ein phänomenaler Geiger. Und mehr noch: ein Musiker, der in allem, was er spielt und denkt, auf den tiefsten Grund zu kommen sucht. Dorthin, wo Kunst, Leben und Philosophie eins sind.

Der Geiger als Philosoph. Das ist — wie bei allen wahren Philosophen — auch bei Nikolaj Znaider keine Pose, kein nach außen gewendetes Prunken und Protzen mit Weisheiten. Sondern, ganz im Gegenteil, die Lebenshaltung eines ständig Lernenden, Fragenden, Reflektierenden. Znaider denkt intensiv nach über das, was er tut. Denn eines möchte er auf keinen Fall: Musik aus falschen Gründen machen.

Sinnig und sinnlich

Bevor diese Introduktion falsche Assoziationen weckt, sei eines gleich klargestellt. Philosophen können Sinnesmenschen sein und Sinnesmenschen Philosophen. Bei Nikolaj Znaider jedenfalls paart sich die konsequente Suche nach dem Sinn mit einem bezwingenden Sensorium für Sinnlichkeit. Wie sonst könnte er ein so phantastischer Geiger sein?

Auch der Privatmensch Nikolaj Znaider vergräbt sich nicht hinter Büchern (obwohl er immer eines griffbereit hat). Er spielt leidenschaftlich Tennis, betreibt eine chinesische Kampfsportart, liebt gute Essen, genießt anregende Gespräche unter Freunden
… Nein, lassen wir alle Klischees über Philosophie gleich einleitend beiseite. Als Philosoph leben heißt nicht, sich grübelnd vom Leben zu absentieren, sondern, en contraire, so intensiv wie möglich zu leben. Mit allen Sinnen. Und mit aller Hinwendung auf die Tiefe, die Frage nach dem Sinn.

Sprachvermögen ist nicht gleich Sprache

Musik von Grund auf. Wem es darum zu tun ist, der wird gängige Anschauungen in Frage stellen. Zum Beispiel jene, daß der Ton die Musik macht. Ton, Technik, geigerisches Know-how: Nikolaj Znaider verfügte darüber schon als Teenager in einem Maß, das Außenstehende für das Nonplusultra hielten. 1992, im Alter von 17 Jahren, gewann er den Internationalen Carl-Nielsen-Wettbewerb in seinem Heimatland Dänemark und wechselte zur weiteren Ausbildungen an die Juilliard School New York, die Topadresse zur Endfertigung von Global Players unter den Violinsolisten. Eine klare Weichenstellung also für die Spitzenkarriere. Doch Znaider hegte Zweifel und hielt inne. Zu denken gaben ihm Kommilitonen, die genau das zu glauben schienen: daß der Ton die Musik macht. Studienkollegen, die rasche einmal den letzten Schliff für die große Karriere holen wollten. Typen, die Musik aus Gründen machten, die Znaider einfach für falsch halten mußte. Worum ging es wirklich?

„Ein Instrument zu beherrschen“, sagt Znaider heute, „kann kein Ziel in sich sein. Im Grunde ist es nicht mehr als lesen und schreiben lernen. Eine ’sine qua non‘, eine Voraussetzung. Aber dann erst beginnt es!“ Nur allzu leicht hält man in Musikerkreisen schon das Sprachvermögen für die Sprache selbst. Wer aber, wie Znaider, wirklich von Grund auf etwas sagen möchte, schaut auch anders auf die Ausdrucksmittel. „Je besser und feiner die technischen Möglichkeiten sind“, sagt Znaider, „umso näher wird der Weg von dem, was man metaphysisch in sich hört, zu dem, was man wirkich von sich hören lassen kann.“

Radikalität des Neubeginns

Znaider arbeitete deswegen nochmals an seinem Sprachvermögen — und zwar von Grund auf. Von der Juilliard School kam er zu Boris Kuschnir nach Wien, um hier nochmals, mit aller Radikalität des Neubeginns, lesen und schreiben zu lernen. Es ging darum, ein wirklich tragfähiges Fundament zu legen. Und Znaider ließ sich rückhaltlos ein auf die Anregungen, die dazu von Kuschnir kamen. Fast ein Jahr studierte er nur das Dritte Saint-Saëns-Konzert, ein Werk, in dem sich elementare Aufgabenstellungen wie im Brennspiegel zeigen. „Wenn wir an eine Stelle kamen“, erzählt Znaider, „wo ich einen Strich nicht wirklich beherrschte, haben wir ein, zwei Wochen nur daran gearbeitet, diesen Strich zu finden.“

Die Früchte dieses Eifers erntete Nikolaj Znaider drei Jahre später, 1997. Da gewann er einen der anspruchsvollsten Violinwettbewerbe des Musiklebens überhaupt, den Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel. Ab jetzt stand der junge Däne, Sohn polnisch-israelischer Eltern, im internationalen Rampenlicht. Menuhin feierte ihn als Nachfolger des Legendären Eugène Ysaÿe, reihum baten ihn die Spitzenorchester aufs Podium: die „Big Five“ in den USA ebenso wie das Israel Philharmonic Orchestra, das Concertgebouworchester in Amsterdam, die Spitzenorchester Londons, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Berliner Philharmoniker, die Wiener Symphoniker — und nun auch, selbstverständlich, die Wiener Philharmoniker.

Damit scheint alles gesagt. Aber wirklich gesagt ist damit noch gar nichts.

Der wahre Grund

Klingende Namen in der Programmheftbiographie, rauschender Applaus, glühende Bewunderung – „so wichtig sehe ich mich nicht“, sagt Nikolaj Znaider, „daß ich das brauch“. Was bei anderen vielleicht nach Koketterie klänge, ist bei ihm Ausdruck gelebter Philosophie. „Es geht nicht um meine Art, Musik zu machen“, sagt der 31jährige, „sondern um die Art an sich, Musik zu machen.“

Der Geiger als Philosoph — und das Ding an sich. Wer Musik in dieser tiefgeistigen, universellen Dimension begreift, begibt sich, wie Znaider erläutert, „auf eine große Reise“. Der muß jenen Weg in umgekehrter Richtung gehen, den das Werk selbst genommen hat, um aus der Vorstellungswelt des Komponisten klangsinnlich Gestalt anzunehmen. Das aber heißt, daß er nicth stehenbleiben darf bei den Zeichen, die auf dem Notenpapier stehen. Diese materiellen Manifestationen sind nichts anderes als Wegweiser, die einen weiterführen: weiter zum Grundgedanken, weiter zur Uridee, zum schöpferischen Urimpuls.

Von der Materie zur Idee. In nichts anderem als der Suche nach diesem Urgrund, sagt Znaider, liege der wahre, eigentliche Grund für ihn, Musik zu machen. „Ich finde, wir ‚mißrepräsentieren‘ die Musik, wenn wir nicht nach diesem Urgedanken suchen! Das ist für mich auch eine moralische Aufgabe. Verliert man sie aus den Augen, besteht die Gefahr, dass die Musik nichts Signifikantes mehr hat und nur zum angenehmen Klang gerinnt.“ Als ob der Ton die Musik mache!

Jede Note mit Notwendigkeit

Die Konsequenzen dieses Denkens reichen weit und tief, ja sie betreffn, nimmt man es ganz genau, jede einzelne Note eines Meisterwerks. „Wenn es sich wirklich um ein solches Meisterwerk handelt“, sagt Znaider, „dann steckt hinter jeder Note eine innere Notwendigkeit. Dann bedeutet ein Crescendo nicht einfach ‚zunehmend lauter‘ und ein ‚Subito piano‘ nicht einfach ‚plötzlich leise‘. All diese Anweisungen haben ihre Ursache in einem Gefühlsgrund. Und den muß man zu finden suchen.“ Anders gesagt: „Ein Sforzato bei Beethove nur einfach deshalb zu spielen, weil es in den Noten steht, ist eigentlich Unsinn.“ Wie aber kommt man diesem Urgrund wirklich nahe? Entscheidend ist sicher, dass man das einzelne Zeichen aus der Sprache des Komponisten heraus zu verstehen lernt. Bei Beethoven beispielsweise ist diese Sprache in den Symphonien und Klaviersonaten am deutlichsten entwickelt. Und genau diesen Weg schlug Znaider ein, bevor er seine exzeptionelle Einspielung des Beethoven-Violinkonzerts mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Metha vorgelegt hat. Er studierte Beethovens Symphonien und Klaviersonaten. Und mehr noch: Er dachte auch über Beethovens geistige Welt, die Nähe zum Gedankengut des deutschen Idealismus.

Die Antwort, die der junge Geiger denn auch auf die oft gestellte Frage nach den Schwierigkeiten des Beethoven-Konzerts gibt, fällt demgemäß philosophisch aus. Das Besondere dieses Werks, sagt Znaider, liegt nicht allein in der symphonischen Faktur, die den Geiger mehr kommentierend als solistisch deklamierend ins große Ganze einbinde. Wesentlich, sagt er, sei der Gedanke dahinter: „die spirituelle Idee, die einer asketischen Reise gleicht — einer Reise, die auf ein höchstes Ideal ausgerichtet ist. Aber dieses Ideal bleibt immer außer Greifweite.“

Kunst, Leben, Philosophie

Was Znaider über Beethoven sagt, gilt cum grano salis für alles, mas er musikalisch anpackt. Wer den wahren Grund des Musizierens im Urgrund der Musik selbst sieht, steck sich ein hohes, ja letztlich unerreichbares Ziel. Der Idee wirklich nahezukommen, sagt der Geiger als Philosoph, kann nur in ganz wenigen Augenblicken gelingen, nur in einzelnen, kostbaren Momenten der Seligkeit. Höchstes Interpretenglück aber ist es, in diesen Augenblicken nicht alleine zu sein: sie anderen mitteilen und mit anderen teilen zu können.

Solche Öffnungen auf das Eigentliche hin haben mit apodiktischen Wahrheiten nichts gemein. „Sicher“, sagt Znaider, „gibt es auch in der Musik gewisser Weise ‚richtig‘ und ‚falsch‘; es gibt richtige Werte und Prinzipien, und es gibt falsche. Aber es gibt viele Möglichkeiten, etwas richtig zu machen, und es gibt viele Wege, der Wahrheit nahe zu kommen.“

Denn immer ist es der einzelne, der sich auf die Reise macht. Er ist es, der sich einbringt: mit seiner ganz persönlichen Geschichte, seinem Wesen, all seinen Sinnen, all seinem Verstand. Ein Glücksfall freilich, wenn sich dabei alles so verbindet wie bei Nikolaj Znaider. Ein Glücksfall. Und der Idealfall einer Kongruenz. Kunst, Leben, Philosophie. Bei Nikolaj Znaider sind sie wirklich eins.

Dr. Joachim Reiber

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