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Der Geiger Julian Rachlin

Er war der strahlende Sieger des vierten Eurovisions-Wettbewerbs für junge Künstler in Amsterdam. Doch vor einem zu frühen Einstieg in den verschleißenden Musikbetrieb wurde der damals Dreizehnjährige glücklicherweise bewahrt. julian Rachlin hatte die nötige Zeit zu lernen und sich zu entwickeln, und das kluge Warten zahlte sich aus. Denn nun gehört der aus Wilna stammende und heute in Wien lebende Geiger zu den führenden Interpreten seiner Generation. Seit über sieben jahren ist Rachlin bereits auf den internationalen Podien zu Hause, aber erst im September vergangenen jahres kam er zu seinem ersten großen Konzertauftritt nach Deutschland.

Dvorak, immer wieder Dvorak. Tagelang tönte die berühmte Aufnahme des Cellokonzerts mit Mstislav Rostropowitsch und Herbert von Karajan in allen Winkeln des Hauses. Unzählige Stunden zwang der Zweijährige die ganze Familie, dieser Schallplatte zuzuhören. Wie konnte ein Kind nur so besessen sein von diesem Stück? Julian Rachlin zählt diese Hörerfahrung zu seinen musikalischen Schlüsselerlebnissen. Mit einem Regenschirm und einem alten, schwarz behaarten Bogen versuchte er ein Cello zu imitieren. Er wollte auf jeden Fall das Cellospiel erlernen, es dem Vater nachmachen, wie er zu Hause übte. Dieser war Profi-Cellist in litauischen Orchestern und begeisterte den Sohn für sein Instrument. Wie der Vater wurde auch die Mutter am Leningrader Konservatorium ausgebildet, als Pianistin und Chordirigentin: eine Kindheit, umgeben von Musik. Still und mit offenem Mund, berichten die Eltern später, soll er die bis zu sechs Stunden dauernden Orchesterproben des Vaters verfolgt haben, fasziniert von allem, was da vorging. Dort habe er die Liebe zur Geige entdeckt, erinnert sich Rachlin. Ob diese Liebe einmal eine Solistenlaufbahn nach sich ziehen könnte, darüber hatte sich damals wirklich niemand den Kopf zerbrochen. Die Härten eines Lebens als Berufsmusiker kannten die Eltern nur zu gut. In dieser Richtung Druck auszuüben, kam ihnen daher gar nicht in den Sinn. Die Oma schaffte schließlich eine kleine, billige Geige an die das neue Spielzeug und eine willkommene Beschäftigung für den ganzen Tag war.

Julian Rachlin kam 1974 im litauischen Wilna zur Welt. Um die musikalische Erziehung des jungen kümmerte man sich in den ersten Lebensjahren nur wenig. Viel drängender waren Probleme existentieller Art, denn die Familie faßte die Emigration ins Auge. Der Freiheitsdrang der Mutter — sie hatte schon im westlichen Ausland konzertiert — und das große Glück, zu den wenigen zu gehören, die damals offiziell ausreisen durften, führten die Familie 1978 schließlich nach Wien. Aus dem Nichts gelang der Neuanfang, und bald gab man auch dem Drängen des Sechsjährigen nach, der sich unbedingt einen richtigen Geigenlehrer wünschte. Die offensichtliche Begabung des jungen entfaltete sich in einem Klima ohne falschen Ehrgeiz. Gerade das weiß Rachlin heute sehr zu schätzen: „Bis zum heutigen Tag haben mir meine Eltern, die ja beide Musiker sind, nicht ein einziges Mal gesagt, daß ich üben solle. Das ist ein wichtiger Grund dafür, daß ich die Musik liebe. Sie haben die richtige Balance gefunden. Ich wurde nie bevorzugt oder besonders verwöhnt, sondern wie ein ganz normales Kind erzogen. Mit viel Liebe. Und das ist sehr wichtig.“ Dem Phänomen „Wunderkind“ steht Rachlin entsprechend reserviert gegenüber: „Sicher gibt es Wunderkinder. Ich denke da etwa an Mozart, der mit sechs jahren, quasi aus dem Nichts, unglaubliche Dinge komponiert hat. An Kissin, der schon in der Wiege Bach-Fugen gesummt hat, wie seine Mutter erzählte. Oder an Menuhin, der mit elf Jahren das Beethoven-Konzert öffentlich spielte — musikalisch reif — , das ist natürlich unglaublich und außerhalb jeder Norm.

Nur neigt man allgemein dazu, jedes Kind, das mit zehn irgendetwas hervorragend spielt, als Wunderkind anzusehen. Das ist natürlich nicht ernst zu nehmen. Bei wirklichen Frühbegabungen, die Dinge zustande bringen, die nicht erklärbar sind, besteht die große Gefahr, daß es sehr schnell aus ist. Da geht es dann um viel Geld und schnelle Karriere. Alle sind begeistert, Eltern und Lehrer wollen ihr Kind der Welt präsentieren. Und plötzlich ist der Stern verglüht, das Talent von der Welt verbraucht. Oft ist auch die Freude am Musizieren dahin, und viele machen dann etwas ganz anderes. Das ist schade, das kann nicht Sinn und Zweck sein. Wichtig ist, daß man eine Basis aufbaut, auf der man sich das ganze Leben lang künstlerisch verwirklichen und weiterentwickeln kann. Ein perfektioniertes kleines Kind, sicher, das fasziniert jeden. In diesem Alter geschieht alles unbewußt. Später, mit fünfzehn oder sechzehn, sieht man die Dinge ganz anders. Bewußtsein und Persönlichkeit zu entwickeln, das braucht viel Zeit. In meinem Fall wurde nie versucht, etwas zu schnell voranzutreiben.“ Und so nahm Rachlins Karriere einen langsameren, weniger forcierten Verlauf als bei anderen Hochbegabten — dank des sozialen Umfeldes, in dem er sich bewegte und geborgen fühlte. Dem Elternhaus verdankt er viel, aber auch seinem Lehrer Boris Kuschnir. Seit dem neunten Lebensjahr ist Kuschnir Rachlins Lehrer und Mentor. Zwischen bei den entwickelte sich mit den Jahren ein ganz außergewöhnliches Verhältnis persönlichen Vertrauens, das lange über eine alltägliche Lehrer/Schüler-Beziehung hinausgewachsen ist. Noch immer nimmt Rachlin bei ihm vier offizielle Stunden am Wiener Konservatorium. Doch im Grunde gibt es keine zeitlichen Beschränkungen. Man trifft sich, wenn nötig, um acht Uhr früh oder nach Mitternacht, immer wenn es die Zeit erlaubt.

Nach New York, an die juilliard School, etwa zu Dorothy Delay zu wechseln, was viele Talente früher oder später anstreben, kam Rachlin nie in den Sinn. Ganz sicher weiß er, daß ihm das dort praktizierte Ausbildungsssystem nicht liegt und daß er in Boris Kuschnir den Lehrer seines Lebens gefunden hat. Kuschnir absolvierte die strenge Violinschule des Moskauer Konservatoriums, mit Unterricht hauptsächlich bei Boris Belenky, einem hervorragenden Pädagogen, und von Zeit zu Zeit auch bei David Oistrach. Viele jahre spielte er im Moskauer Streichquartett und nach seiner Emigration Anfang der achtziger Jahre zunächst im Wiener Schubert-Trio. Nach dessen Auflösung gründete er dann das Wiener Brahms-Trio. Über Kuschnir steht Rachlin in der Tradition der „Russischen Schule“, dem bewährten, effektiven System aus der berühmten „goldenen Zeit“, die so viele große Geiger hervorbrachte. „Man muß sich hundertprozentig mit seinen Prinzipien identifizieren. Das bedeutet harte Arbeit. Sich darauf einzulassen hat nur Sinn, wenn man ganz professionell den ganzen Tag zu opfern bereit ist. Professor Kuschnirs System erfordert fünf bis zehn Stunden Üben pro Tag“, erklärt Rachlin. ,.Es beinhaltet die gesamte Information. Technische Probleme werden mit millimetergenauer Präzision analysiert, und dem Schüler wird die Lösung, was auf rein physiologischer Ebene genau zu tun ist, quasi in die Hände gelegt. Dann beginnt die aufwendige und trockene technische Arbeit, ohne die es nicht funktioniert. Ich arbeite jeden Tag mindestens zwei bis drei Stunden nur an meiner Technik, Tonleitern, Etüden, Capricen usw., um eine dauerhafte Grundlage zu schaffen, wenn ich später nicht mehr so viel üben kann oder will wie heute. Diese Basis muß man in jungen jahren legen. Erst wenn der Schüler ein Werk technisch völlig beherrscht, beginnt die musikalische Arbeit: mit der Zerlegung des Stückes, Note für Note, Phrase für Phrase. Dann wird es langsam geformt und zur Konzertreife gebracht. Professor Kuschnir erwartet vom Schüler eigene Gestaltungsideen. Und er zeigt ihm dann auf geniale Weise, wie er später dem Publikum genau diese interpretatorischen Vorstellungen vermitteln kann. Um die Konzertsituation zu simulieren, werden Konzerte im Freundeskreis,organisiert, in denen der Schüler das Werk mit Klavierbegleitung durchspielen muß,zur Kontrolle oft auch mit Videokamera. Letztlich hat der Schüler alle Freiheiten. Am Schluß heißt es dann: ,Vergiß alles, was wir gemacht haben und spiel, wie Du möchtest!‘ Die Arbeit mit meinem Lehrer, der mich auf meinen Wunsch auch auf den Konzertreisen begleitet, ist heute ein Prozeß des Suchens. Auch wenn ich ein Stück eigentlich schon spielen könnte, warten wir noch mit der Aufführung, um es reifen zu lassen und ganz genau herauszuarbeiten, welche Stimmungen wir ausdrücken möchten. Das beinhaltet auch konzentrierte Arbeit am Klang, den Ton in alle Richtungen sehr flexibel zu gestalten, in Richtung ,Power‘ genauso wie in die schwelgerische, träumerische Richtung und in den sensiblen piano-Bereich hinein. Dank seiner außergewöhnlichen pädagogischen Fähigkeiten erschließt Professor Kuschnir das ganze Potential des Schülers, zu wachsen und sich zu entwickeln.“

Schon immer spielte der Faktor Zeit in Rachlins Karriere eine bedeutende Rolle. Die Dinge wachsen zu lassen, nichts zu überstürzen, lautete die Devise von Anfang an. Auch 1988, als er, geradedreizehnjährig und zur eigenen Überraschung, den vierten Eurovisions-Wettbewerb für junge Künstler im Amsterdamer Concertgebouw gewannund international im Rampenlicht stand. „Daß ich gewinnen würde, hat eigentlich keiner von uns erwartet. Ich bin hingefahren mit der Einstellung, es einfach mal zu versuchen. Ganz ohneden Druck, unbedingt einen Preis zu holen. Ich war allerdings sehr gut vorbereitet und hatte das Wieniawski-Konzert bis ins Letzte ausgearbeitet. Das war immer unser Standpunkt: kein Druck, aber die Qualität muß stimmen, sonst hat es keinen Sinn, mit der Geige aufzutreten. Ich habe einfach gespielt, und man hat beschlossen, daß ich gewinne. Ich hab‘ mich sehr gefreut, meine Mutter war zurückhaltender. Von ihr habe ich die professionelle Einstellung. Wenn ich nachlässig beim Üben war oder im Unterricht schlecht gespielt habe, meldet sich immer das schlechte Gewissen.“ Bereits damals schienen sich die Türen in die Musikwelt zu öffnen, der Andrang der Manager jedenfalls, die den glücklichen Sieger engagieren wollten, war groß. Der Familienrat entschied, sich des Risikos wohl bewußt, alle Angebote abzulehnen — um einen frühen Verschleiß im Musikbetrieb zu verhindern, um die nötige Zeit zu gewinnen für eine gründliche Aufbauarbeit. Nie hatte Rachlin einen anderen Berufswunsch als Musiker zu werden, eine Solokarriere stand aber auch noch nicht zur Diskussion, als er bereits eine Reihe von Preisen und Auszeichnungen eingeheimst hatte: Schon 1985 siegte er beim Bundeswettbewerb „jugend musiziert“ in Leoben. Die Verleihung des Anton Bruckner-Förderungspreises durch die Wiener Symphoniker und die ersten Preise und Sonderpreise beim 11. Internationalen jugendwettbewerb in Stresa 1987 und beim Internationalen Wettbewerb „Concertino Praga“ 1988 erschienen äußerst vielversprechend. Wirklich konkret wurde der Gedanke an eine Virtuosenlaufbahn erst nach dem Eurovisions-Wettbewerb. Besonders dankbar ist Rachlin Lorin Maazel, der ihn als erster nach dem Amsterdamer Erfolg einlud — zu einem Auftritt mit dem Orchestre National de France bei den Berliner Festwochen. Auf dem Programm stand Saint-Saens‘ „Introduktion und Rondo capriccioso“. Wenig später holte ihn Bernard Haitink nach London. Seitdem hat Rachlin mit den meisten bedeutenden Orchestern und vielen namhaften Dirigenten konzertiert. Als „Highlight“ ist ihm sein Debüt bei den Wiener Philharmonikern, mit Riccardo Muti und Mozarts G Dur-Konzert, in Erinnerung geblieben. Mit fünfzehn war er einer der jüngsten, die je in einem Abonnementkonzert des Musikvereins aufgetreten sind. Sibelius mit james Levine in Chicago oder mit Esa-Pekka Salonen in Los Angeles, Wieniawski in Philadelphia mit CharIes Dutoit oder der erste gemeinsame Auftritt mit Gidon Kremer 1994 beim Lockenhaus-Festival: Unter den vielen großen KonzerterIebnissen auszuwählen, fällt Rachlin schwer. Daß er erst im September letzten jahres zu seinem ersten großen Konzertauftritt nach Deutschland kam — frühere Engagements in Potsdam und Ludwigsburg blieben ohne Breitenwirkung — ist nach dieser internationalen Erfolgsbilanz mehr als erstaunlich. In der Kölner Philharmonie spielte er mit Mischa Maisky das Brahms-Doppelkonzert, begleitet vom Moskauer Radio-Sinfonie-Orchester Moskau unter Vladimir Fedossejew.

Immer noch lehnt Rachlin Angebote ab und spielt derzeit nur etwa 40 ausgewählte Konzerte im jahr. Langsam wie die Zahl der Engagements wächst auch sein Repertoire, für dessen Erweiterung er sich viel Zeit nehmen will. Nach Wieniawskis zweitem Konzert studierte er Mendelssohn, dann Saint-Saens und mit sechzehn Sibelius. Nach Mozart- und Beethoven-Sonaten folgten Stücke von Grieg, Schubert und Prokofieff, einer seiner Favoriten unter den Komponisten, später Debussy und Franck. Immer wieder auch Paganini für die Finger, und parallel zu allem läuft die stete Arbeit an Bachs Solosonaten und -partiten, die aber noch lange nicht zur Aufführung anstehen. Mozarts A-Dur-Konzert und die „Sinfonia concertante“ sind jetzt aktuell, Beethovens Tripelkonzert, Bruchs „Schottische Fantasie“ und bald auch das Brahms-Konzert. Und Beethoven? „Ich habe das Beethoven-Konzert überhaupt noch nicht gespielt“, äußert sich Rachlin mit Respekt vor diesem Werk, es kommt ganz am Schluß, weil ich finde, daß es am schwersten ist. Dafür werde ich die meiste Zeit brauchen, für eine Aufführung will ich so alt wie möglich sein. Nein, ich möchte es noch ganz beiseite legen. Es ist das Heiligste.“ Auch seine Diskographie baut Rachlin keinesfalls überstürzt aus. 1992 legte er mit Zubin Mehta und dem Israel Philharmonic Orchestra seine Debütplatte bei Sony vor. In den Konzerten von SaintSaens (Nr. 3) und Wieniawski (Nr. 2) überzeugt er mit Reife und Einfühlungsvermögen, seine Interpretationen zielen primär auf die musikalische Substanz, von der er in diesen Werken mehr zu entdecken vermag als mancher Nur-Virtuose. Die zweite CD brachte den Sony-Exklusivkünstler zum ersten Mal mit Lorin Maazel im Studio zusammen, in einem durch ungewöhnlich langsame Tempi sehr individuell geprägten Sibelius-Konzert. Die neueste Produktion, die Konzerte von Prokofieff (Nr. I) und Tschaikowsky, entstand im Februar 1994 live im Saal des Moskauer Konservatoriums. Für diese Aufnahme konnte Rachlin seine Traumbesetzung realisieren: Das Moskauer Radio-Sinfonie-Orchester unter Leitung von Vladimir Fedossejew. Aus seiner Bewunderung für Fedossejew,
mir dem er schon viele jahre zusammenarbeitet, macht Rachlin keinen Hehl: „Ich schätze ihn als einen der ganz großen Dirigenten unserer Zeit, als einen hochsensiblen Vollblutmusiker, der im Konzert in eine andere Welt abheben kann. Und wenn wir uns dann gegenseitig mitnehmen — es gibt kein schöneres Gefühl!“

Eine besondere Beziehung entwickelte Rachlin auch zu Lorin Maazel. „Von Lorin Maazel akzeptiert zu werden, ist schon etwas Besonderes, weil er eben auch Geiger ist. Seine unglaubliche Perfektion

und Selbstbeherrschung auf dem Podium ist wirklich beeindruckend. Wenn dann auch noch die Emotionen dazukommen, ist es einfach überwältigend, mit ihm zu musizieren“, begeistert sich Rachlin. Mit Maazel ging er bereits mehrfach auf weltweite Tourneen, und mit ihm wird er künftig wohl fast ausschließlich aufnehmen. Als nächstes sind Produktionen mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München geplant. Entferntere Pläne oder Ideen gibt es für Mozarts A-Dur-Konzert, für ein Soloprogramm mit Werken von Paganini, Ysaye, Prokofieff; vielleicht gehören auch Heinrich Wilhelm Ernsts akrobatische „Letzte Rose“-Variationen dazu. Mit Paganinis Capricen, von denen er die populärsten gern als Zugabe spielt, möchte er zeitlich gestaffelt immer wieder ins Studio gehen, bis irgendwann alle 24 Nummern eingespielt sind. Bei der Arbeit im Schallplatten-Studio möchte Rachlin nicht weniger Perfektionist sein als beim Üben oder auf dem Podium. „In unserer Zeit werden falsche Töne nicht mehr akzeptiert, deshalb gibt es heute auch keine wirklichen, das heißt ungeschnittenen ,Live‘-Aufnahmen mehr. Da werden zwei bis drei Konzertmitschnitte und zwei Korrekturen kombiniert. Mein Standpunkt ist, entweder geigerisch perfekte Resultate anzustreben oder besser gar keine Aufnahmen zu machen. Ich habe keine Bedenken, zu schneiden, um jede Phrase meinen Vorstellungen entsprechend zu gestalten. Natürlich müssen die einzelnen Takes zusammenpassen und als Ganzes musikalisch sinnvoll sein. Diese Arbeit beschäftigt mich und meinen Lehrer wirklich sehr. Wir ziehen uns mit dem gesamten Material einer Aufnahmesitzung zwei Wochen lang ganz zurück und erarbeiten nachts, ganz in der Stille, die endgültige Version durch sorgfältiges Vergleichen der einzelnen Takes mit dem Mastertape. Aufnahmen bleiben für immer, und ich möchte mir später nicht vorwerfen, ein paar Tage zu wenig geopfert zu haben, um es noch besser zu machen.“

Die Frage nach geigerischer Perfektion bedeutet letztlich auch die Frage nach jascha Heifetz. Sie julian Rachlin zu stellen, drängt sich förmlich auf, denn auch Heifetz‘ Wiege stand in Wilna. Heifetz, das große Vorbild? „lch glaube, jascha Heifetz ist eine große Inspiration für alle“, meint Rachlin, „ein Idol auch für diejenigen, die glauben, ihn nicht zu mögen. Heifetz ist der Inbegriff des Geigenspiels.
Mich fasziniert diese unglaubliche Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit seines Spiels, der Ton, den niemand kopieren kann. Und die Statue Heifetz, die eine solche Persönlichkeit ausstrahlt, daß alles andere verblaßt. Auch die Dinge, über die man bei ihm streiten kann. Aber darüber möchte ich gar nicht diskutieren. Für mich ist Heifetz der faszinierendste Geiger überhaupt.“ Sein Idol nachzuahmen kommt Rachlin nicht in den Sinn. Er möchte Emotionen wecken auf seine ganz eigene Art, mit dem Publikum kommunizieren und dabei bis an Grenzen gehen, sich zwischen „Plus- und Minuspolen“ des Ausdrucks bewegen. Nicht irgendwo in der Mitte. Nur zu zeigen, daß er sein Instrument beherrscht, „to show off the instrument“, wie die Engländer sagen, ist nicht seine Sache. Im Werk suchen will er und mit ihm wachsen als Musiker. Das braucht Zeit. Und die hat julian Rachlin, denn beeilt hat er sich noch nie.

Norbert Hornig

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