Der Meisterlehrer

Dr. Andreas Salcher

Der talentierte Schüler und seine Feinde

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1981 landete der aus Kiew ausgewanderte Boris Kuschnir ohne Geige und ohne Geld in der Tasche in Wien. Er spielt Zubin Mehta vor, und durch eine Reihe von glücklichen Zufällen wird der hochbegabte Geiger, der am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium studiert hat, Erster Konzertmeister am Brucknerorchester in Linz. Sein größtes Talent entdeckt er aber auch durch einen Zufall.

Im Alter von acht Jahren spielt ihm der damals völlig unbekannte Julian Rachlin vor. Rachlin wurde von einigen Lehrern, denen er vor Kuschnir vorgespielt hat, durchaus großes Talent bescheinigt, das schlummernde Genie entdeckte aber keiner. Woran er denn das Genie von Rachlin erkannt habe, frage ich Boris Kuschnir, der ja zuvor überhaupt nicht als Lehrer tätig war. „Der kleine Rachlin hat großartig Hunderte von Noten gespielt, wie so viele andere besonders begabte junge Musiker, aber da gab es eine Note, eigentlich eine halbe Note, die war genial. Es war wie ein Schatten, den ich erkannt habe. Und ich habe von diesem Augen­blick an versucht, ihm zu helfen, die zweite Hälfte dieser halben Note selbst zu entdecken.“

Boris Kuschnir erkannte durch Julian Rachlin die Gnade seines eigenen Talents. Er konnte junge Talente wie mit Röntgen­strahlen durch­leuch­ten. Es geht wie in jeder guten Ausbildung darum, ein Fundament aufzubauen, das dann viele Jahre hält. Viele große Talente gehen der Musik erwa mit zwanzig Jahren verloren, weil die Musiker beim Spielen Haltungs­fehler haben, die ihnen dann schwer zu schaffen machen.

Die Herausforderung im Umgang mit Talenten ist nicht, Dinge vorzu­schreiben. Man darf sich nicht einmischen, sondern nur dem Talent bei seiner Entfaltung helfen. Sonst besteht die große Gefahr, dass „der kleine Rachlin wie der große Kuschnir spielt — aber er soll ja sein eigenes Genie entfalten, darauf kommt es an.“

Der Lehrer, so Kuschnir, müsse die Größe haben, um mit einem Genie auf einem Niveau kommunizieren zu können, aber ohne es zu bevor­munden. Viele Schüler verlassen ihren Lehrer leider viel zu früh und kommen daher über ein bestimmtes Niveau nie hinaus.

Unser Schulsystem kann mit derartigen Ausnahmebegabungen leider nur sehr schlecht umgehen. Selbst an dem Musikgymnasium, das Rachlin besuchte, herrschte wenig Verständnis dafür, dass die wichtigste Zeit zum Üben für ihn zwischen acht und vierzehn Uhr war, also in der Zeit des regulären Unterrichts. Nach der Schule seien Kinder einfach sehr müde, und der Zwang der Hausaufgaben tue sein Übriges. Man könne keine Ausnahmen zulassen, für ein einziges Kind könne nicht alles anders sein, wurde dann oft aufseiten der Schule argumentiert. Die einzige ehrliche Antwort, die der Schüler Rachlin natürlich nicht geben kann, wäre: „Ich bin eine Ausnahme, weil ich genial bin.“ Besondere Menschen brauchen besondere Regeln — und die sind in unserem System leider nicht vorgesehen. Zumindest nicht so lange, bis der große Ruhm ausbricht.

1988 gewann Julian Rachlin als Dreizehnjähriger den begehrten „Young Musician of the Year“-Preis der Eurovision in Amsterdam. Über Nacht erntet er internationale Lobeshymnen. Nach diesem Erfolg lud ihn Lorin Maazel zu den Berliner Festwochen mit dem Orchestre National de France ein und wenig später zu einer Tournee durch Europa und Japan mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra. Mit fünfzehn Jahren spielte Rachlin als jüngster Solist, der je zusammen mit den Wiener Philharmonikern musiziert hat, unter der Leitung von Riccardo Muti.

Schnell meldeten sich einige „Freunde“ des talentierten Schülers bei seinen Eltern. Er müsse jetzt nach Amerika, er brauche die berühm­testen Lehrer, er müsse die wirtschaftlichen Chancen durch ausgedehnte Tourneen nutzen. Julian Rachlin hatte kluge Eltern, die höflich, aber bestimmt antworteten: „Wir sind sehr zufrieden mit seinem Lehrer. Wir bleiben in Wien, weil er sich hier wohl fühlt.“

Was treibt den Meisterlehrer Boris Kuschnir eigentlich selbst an, was macht ihn glücklich? „Wenn ich Menschen helfen kann, dann bin ich glücklich. Wenn mich große Musiker aus der ganzen Welt anrufen, um mir einen Schüler vorzuschlagen, dann bin ich natürlich stolz.“

Es mag für den hoch motivierten Hauptschul- oder AHS-Lehrer, der in unserem System nicht die Wertschätzung bekommt, die er verdient, wenig Trost sein, dass auch ein Meisterlehrer wie Boris Kuschnir in Österreich seine Niederlagen einstecken musste. Kuschnir ist zwar seit vielen Jahren Professor der „Konservatorium Wien Privatuniversität“ und „ordentlicher Professor“ an der Kunstuniversität Graz, aber als er sich vor einigen Jahren um eine von zwei vakanten Professuren an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien bewarb, kamen trotz seines hervorragenden Probeunterrichts andere zum Zuge. Und das bei jemandem, der mit Julian Rachlin und Nikolaj Znaider zumindest zwei Musiker an die Weltspitze geführt hat…

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