Von der Liebe zum Detail

Boris Kuschnir ist nicht nur Geiger und Kammermusiker, sondern weiß auch, wie er das Talent junger Leute optimal fördert, ohne es zu stören. Die klingenden Namen seiner ehemaligen Schüler sprechen deutlich davon. Mit einigen wird er im Musikverein kammermusizieren. Nikolaj Znaider macht am 3. Juni den Anfang.

 
„Ohne Lehrer geht es nicht im Leben. Lehrer zu werden habe ich von meinen eigenen Lehrern gelernt – und von meinen Schülern“, stellt Boris Kuschnir fest – und gerät durchaus ins Schwärmen, wenn er von seinen Studienzeiten
erzählt, die den 1948 in Kiew geborenen Sohn einer Musikerfamilie mit 18 Jahren ans Moskauer Tschaikowskij-Konservatorium geführt haben. Neben Boris Belenkij – „ein fantastischer Violinlehrer!“ – war es regelmäßig auch David Oistrach, damals der Leiter einer der vier relativ kleinen Abteilungen am
Konservatorium, mit dem Kuschnir arbeiten konnte. Eine weitere prägende Figur stellte Dmitrij Schostakowitsch dar, der mit Kuschnir und dessen damaligen Quartettkollegen seine Streichquartette Nr. 13 und 14 einstudierte – Stücke, mit denen die jungen Leute dann prompt auf Wettbewerben reüssieren konnten.

In musikalischen Belangen war das Klima unglaublich anregend – kein Wunder angesichts von Persönlichkeiten wie Aram Chatschaturjan und Dmitri Kabalewski, Swjatoslaw Richter und Emil Gilels, Leonid Kogan, Mstislaw Rostropowitsch und vielen mehr. Unter den Kommilitonen Kuschnirs fanden sich Gidon Kremer und Mischa Maisky ebenso wie Radu Lupu: „Ich kann mich erinnern, dass er einmal mitten in der Nacht zu mir kam und wir das Beethoven-Violinkonzert gespielt haben.“ Eine glückliche Zeit.

Hüben und drüben

Glück: ein Wort, das Boris Kuschnir immer wieder bescheiden im Munde führt, wenn er von seinem Leben und seiner Arbeit erzählt. Er spricht es durch seinen russischen Akzent nahezu ohne Umlaut aus – vielleicht erhält es dadurch so viel Gewicht, wirkt niemals leichtfertig dahingesagt. Dabei war es vor allem sein Talent, das Kuschnir ermöglichte, 1969 in Leningrad beim Allunionswettbewerb mit dem Beethoven-Konzert unter die Gewinner vorzustoßen. Zahlreiche weitere Preise schlossen sich an – nicht zuletzt für den Kammermusiker mit dem von ihm gegründeten Moskauer Streichquartett. 1981 folgte – glückte! – dann die Emigration nach Österreich. Hier begann Kuschnir als Erster Konzertmeister des Bruckner Orchesters Linz, wurde aber
schon 1984 Professor am damaligen Wiener Konservatorium, später zudem Professor an der Grazer Musikuniversität. Anfangs mit dem Wiener Schubert
Trio, seit 1993 mit dem Wiener Brahms Trio und im Kopelman Quartett setzen Kuschnir und seine Kollegen nach wie vor interpretatorische Maßstäbe,
von denen sich das Publikum im Musikverein immer wieder gerne und mit Gewinn überzeugen kann.

Bitte nicht stören!

Doch wie schon angedeutet, ist es für Kuschnir auch „ein Glück, so viele talentierte Schüler zu haben. Denn von ihnen lerne ich unglaublich viel.“ Die ellenlange Liste von Geigerinnen und Geigern, die bei ihm studiert haben, führen Stars wie Julian Rachlin, Nikolaj Znaider, Lidia Baich und Alexandra Soumm an. Aber nicht nur Solisten bildet er aus, sondern auch glänzende Kammermusiker – und er kann derzeit auf sechs seiner Schüler in den Reihen der Wiener Philharmoniker stolz sein. „Jeder von ihnen ist einzigartig“, freut sich Kuschnir. „Ich wollte immer nur gute Musiker mit eigener Sichtweise und eigenen Ideen ausbilden.“

Wie es dazu kam? Weil in seiner damaligen Wiener Wohnung ein Pianino stand, konnte dort 1983 ein privater Klassenabend stattfinden. Dabei lernte Kuschnir die Rachlins kennen, die einen ähnlichen Hintergrund hatten wie er selbst: eine russisch-jüdische Musikerfamilie, die aus der Sowjetunion nach
Österreich emigrieren konnte. Der achtjährige Julian spielte Kuschnir vor – und er nahm ihn unter seine Fittiche. „Es war Glück für beide Seiten“, ist
Kuschnir überzeugt. „Denn durch ihn, von dem damals trotz seiner Begabung keiner glaubte, er würde einmal ein berühmter Solist werden, konnte sich
auch mein Talent als Lehrer entfalten. Dazu braucht man nämlich auch gute Schüler.“

Kuschnir, damals Mitte dreißig, hat sich an seine eigene Studienzeit erinnert, offenbar vieles instinktiv richtig gemacht – und seine Ideen konsequent weiterentwickelt. Zu den wichtigsten gehört, „das Talent nicht zu stören“, wie er schmunzelnd anmerkt. „Julian hat damals so eigenartig gespielt, wie es nur durch eine besondere Begabung möglich war. Natürlich musste er noch viel lernen, viel erleben. Aber es wäre falsch gewesen, rigoros zu sagen: Unmöglich, so kannst du Vivaldi nicht spielen, das ist keine Barockmusik! Wichtiger war, einen Rahmen zu bieten, in dem das möglich war, was er wollte.“ Dass viele im Saal geweint haben, wog für Kuschnir schwerer als Stilfragen. Die machte er im späteren Unterricht zum Thema – früh genug.

Auf den letzten Metern allein

Denn Kuschnirs Unterricht ist auf langem Atem aufgebaut. „Gerade die heute berühmtesten unter meinen Studenten haben sehr lang mit mir gearbeitet: Julian von acht bis 25, Lidia Baich von achteinhalb bis 30, Nikolaj Znaider von 18 bis 26 … Sie müssen nicht weggehen, weil ich sie im letzten Abschnitt der Entwicklung nicht störe. Ich habe gelernt, nur bis zu einer gewissen Höhe zu unterrichten.“ Den Gipfel erstürmen die dadurch bestens vorbereiteten Musikerinnen und Musiker dann auf ihre ureigene Weise – und nicht etwa als mehr oder minder blasse Kopie des Lehrers. So lernt auch dieser manchmal neue Interpretationsansätze kennen: „Ich analysiere ihre Ideen, manche lassen sich auch gut in andere Konzepte einbinden – auch Fingersätze.“ Dabei hat Kuschnir gerade auf diesem Gebiet schon bei vielen Geigern Verblüffung erzeugt. Für manch heikle oder gar gefürchtete Stelle hat er nämlich für die Rat Suchenden gleich drei bis fünf Lösungsmöglichkeiten parat – und hört dann gewöhnlich Ausrufe wie: „Wunderbar! So einfach! Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?“

Zeit für Details

Der lange Atem erstreckt sich jedoch auch auf die Verweildauer bei den einzelnen Werken der großen Violinliteratur. Eine Anekdote veranschaulicht das sehr gut, für die wir einmal einen großen Geiger auftreten lassen, der nicht Kuschnirs Schüler war: Maxim Vengerov. Als er und der gleichaltrige Rachlin einander als Teenager immer wieder trafen, tauschten sie sich natürlich auch über die Werke aus, die sie gerade im Unterricht erarbeiteten. Vengerov erzählte also von einem der Paganini-Konzerte, ein paar Monate später von Mendelssohn und noch später von Tschaikowskij. Und was hielt Rachlin dagegen? Wieniawski. Erster Satz. Zweiter Satz. Dritter Satz.

„Ja, ich halte große Stücke auf Detailarbeit, und die kostet Zeit“ räumt Kuschnir ein. „Aber die Details sind wichtig. Und die gelernten Kleinigkeiten helfen auch in anderen Werken.“ So kommt es, dass heute das Repertoire der beiden praktisch gleich groß ist: „Meine Langsamkeit führt also nicht zu einem Rückstand.“ – Ganz im Gegenteil, möchte man anfügen.

Mittlerweile pilgern junge Geiger genau für diese penible, langsame Detailarbeit zu Kuschnir. „Mit Znaider habe ich auch minutiös gearbeitet. Als ich einmal etwas rascher geworden bin, sagte er plötzlich: ‚Entschuldigung, Herr Professor, Sie sagen heute immer, es sei gut, wie ich spiele … Wenn Sie müde sind, komme ich besser morgen wieder. Ich will nämlich hören, was nicht gut ist!‘“

Locker? – Gewusst, wie!

Vor den genannten Gipfelstürmen ist freilich die unvermeidliche Trainingszeit im Basiscamp zu absolvieren. Die vielzitierte russische Violinschule besteht für Boris Kuschnir da zunächst und vor allen Dingen in der Erlangung einer Technik, die den Spieler befähigt, seinen Beruf bis ins hohe Alter auszuführen. Körperhaltung, Bogenführung, Saiten- und Lagenwechsel, entspanntes Spiel sind die wichtigsten Themen. Den Begriff der Lockerheit findet er allerdings trügerisch: „Es muss genau klar sein, welche Muskeln konkret locker sein müssen, was die rechte, was die linke Hand, was die Schulter macht, welche Lagenwechsel wo zu wählen sind.“ Das technische Rüstzeug ist die Grundlage für die individuelle Musikalität. „Znaider kam mit guter Technik zu mir, hat aber selber kleine Probleme gespürt. Und durch so etwas kann sich das Talent nicht optimal entwickeln. Da sind viele Stunden nötig, nicht mit Musik, sondern mit Basis, mit Fundament. Wenn ich ihn jetzt treffe und sage: ,Du spielst so fantastisch und absolvierst so viele Konzerte, dirigierst auch noch – wie machst du das alles?‘, dann sagt er: ‚Wissen Sie warum? Weil ich von Ihnen gelernt habe, wie!‘“

Freundschaftsspiel

So ein Kompliment freut Kuschnir natürlich – und vor allem auch, dass er mit den ehemaligen Schülern auch Freundschaften unterhält und mit etlichen von ihnen im Musikverein musizieren kann: Mit Nikolaj Znaider an der ersten Violine und Yuri Bashmet an der Viola spielt das Wiener Brahms Trio, also Kuschnir, Orfeo Mandozzi und Jasminka Stancul, nun das herrliche Zweite Klavierquintett A-Dur, op. 81, von Antonín Dvorcák. Die melancholischen Töne etwa des zweiten Satzes gewinnen für Kuschnir dabei möglicherweise eine persönliche Dimension: Obwohl nach wie vor als Musiker hoch aktiv, soll er nun mit 65 seine geliebte Violine, die Stradivari „La Rouse-Boughton“, nach 23 Jahren an den Eigentümer zurückgeben, die Österreichische Nationalbank.

Hoffen wir, dass Boris Kuschnir auch in diesem Punkt sein vielzitiertes Glück treu bleibt.

Walter Weidringer

Zeitung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Mai/Juni 2014

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