Lindauer Zeitung

Meisterkurs für Violine mit Boris Kuschnir

Jeder Finger ist ein König

Konzentrierte Kursatm0sphäre herrscht seit Dienstag Nachmittag wieder im Lindauer Forum am See: Nachdem sich seit 1995 alle zwei Jahre junge Pianisten um Professor Kämmerling scharen, findet in diesem lahrerstmals ein Violinmeisterkurs mit Professor Boris Kuschnir statt.

Von unserer Mitarbeiterin Katharina von Glasenapp

Der Unterricht mit Professor Boris Kusehnir, einem der renommiertesten Violinpädagogen, der seit vielen Jahren in Wien und Graz unterrichtet und so berühmte Geiger wie Julian Rachlin und Nikolai Znaider ausgebildet hat, ist zum Teil öffentlich und gewährt einen hochinteressanten Einblick in die Erarbeitung der Violinliteratur.

Größer könnten die Unterschiede kaum sein zwischen Eung-Soo Kim, dem 27-jährigen Koreaner, der begleitet von seiner Frau an Cesar Francks Violinsonate arbeitet, und der feingliedrigen 14-jährigen Russin Alexandra Soumm, die sich auf den Eurovisionswettbewerb Ende Mai vorbereitet. Schön im Klang, rein in der Intonation ist Kims Spiel im ersten Satz, und es sind nur Feinheiten, die Boris Kuschnir anzumerken hat und die doch so viel bewirken. „Es fehlt der Fluss“, sagt er und versucht, den in sich ruhenden Koreaner herauszulocken: Gefühle, Emotionen sollen zum Ausdruck kommen und auch für den Hörer in der 35. Reihe zu verstehen sein.

Musik unterm Mikroskop

Beim Crescendo „muss innerlich etwas passieren“, doch die innere Spannung darf nicht in einer Schulterverspannung sichtbar werden — Körperhaltung, Spieltechnik und Musikalität wirken zusammen und bilden ein harmonisches Ganzes. Und wirklich kommt, angeregt von Kuschnir, jener warme von Herzen kommende Ton, der zu berühren vermag.

Alexandra Soumm, das Kind russischer Musiker, deren Eltern nun in Frankreich leben, studiert seit drei Jahren bei Kuschnir und gehört sicherlich zu den großen Ausnahmetalenten. Erst vor drei Tagen hat die zierliche Musikerin eine neue, größere Geige aus der Familie der Stradivaris bekommen und ist dabei, mit dem Instrument. seinem speziellen Klang, seiner weiteren Mensur vertraut zu werden. Dazu musiziert sie mit dem Bogen des Lehrers und bereitet außerdem die Carmen-Phantasie von Franz Waxman, eines der schwierigsten Virtuosenstücke überhaupt vor. Für die kleine temperamentvolle Künstlerin alles anscheinend kein Problem: im ersten Durchgang meistert sie einen Schwindel erregenden Seiltanz, dann gehen Kuschnir und Alexandra das Stück Ton für Ton, Phrase für Phrase in allen Einzelheiten durch. Es ist eine Arbeit wie unter dem Mikroskop, denn die technische Perfektion ist für Kuschnir die absolut notwendige Basis, ohne die niemand Musik machen kann.

Was ist das Besondere an Kuschnirs Unterricht? „Viele Lehrer beginnen damit, Musik zu machen, auch mit kleinen Kindern, aber wenn sie technische Probleme haben, dann wird das Kind überfordert. Deswegen versuche ich, Technik und Musikalität zusammen auszubilden. Wichtig ist für mich eine sehr natürliche Haltung von Instrument und Bogen: Ich sehe, wie Hände und Körper gebaut sind, wie ein Arzt versuche ich herauszufinden, welche Haltung die beste ist für diesen Schüler und jene Schülerin. Das dauert oft Monate oder auch Jahre, jeder ist individuell verschieden, und für jeden habe ich einen eigenen Tipp. So gibt es auch für mich keine Routine, ich kann immer etwas neues entdecken und herausfinden.“

Jede Note ist wie Gold

Alexandra setzt alles sofort um — die rasend schnellen Passagen werden gleichsam seziert und wieder zusammen gesetzt, Impulse gliedern eine Phrase, kein Finger darf vernachlässigt werden, jeder ist ein König, jede Note ist wie Gold und wird liebevoll herausgearbeitet. Und wenn die technische Basis geschaffen ist, dann kommt die Musik heraus: Unter Alexandras Händen werden Carmen, Don José und Escamillo lebendig und springen in atemberaubender Geschwindigkeit und großem gesanglichem Ton über die Saiten.

Lindauer Zeitung / Schwabische Zeitung, 15. April 2000

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